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- Schreiben-Glisch, das:
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Um die Jahrtausendwende, als Island von umherfahrenden Norwegern
besiedelt wurde, die auf der Suche nach neuen Siedlungsräumen
waren, breitete sich auf der eisigen Insel neben den sonstigen Riten
und Moden auch die Kunst des Schreibens rasch immer weiter aus. Die
Isländer sind nicht umsonst heute eines der gebildetsten und
belesensten Völkchen der Erde.
Die Sagas und Legenden, die abends in den Torfhäusern und
Mooshütten weitergegeben worden waren, wurden von Schreibern auf
Papier festgehalten. Leider war es so feucht in den oft halb in die
Erde gebauten Behausungen, daß es winters wie sommers faulig,
modrig und schimmlig roch. Grüner Algen-Schimmel-Schleim
glitschte von den Dach- Tragebalken, machte sich auf Möbeln und
Inventar breit. Die Bewohner dieser spärlich eingerichteten
Hütten litten oft an Grippe, Fieber und Auszehrung. Auch die
Dokumentpapiere, die zum Schreiben auf den Tischen lagen, wurden
"befallen" von schleimigem, glitschigem
Modergrünspan-Allerlei. Dies nannten die Isländer Glisch und
benutzten das Wort gleichfalls, um zu beschreiben, daß ein
Papier nicht mehr zum Schreiben verwendet werden könnte, da es
durch diesen Schimmelbelag zu feucht geworden war. Das
"Schreiben-Glisch" war somit in puncto kultureller
Überlieferung das Hauptproblem der Isländer. Sie beschlossen
daher, ihre Sprache so lange nicht zu verändern, bis eine Zeit
anbrechen würde, in der es ihnen gestattet wäre, in
komfortablen Häusern zu wohnen, die von Feuchtigkeit nichts
wissen und allen widrigen Umständen des isländischen Klimas
trotzen würden.
Und so kam es, daß erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs,
als Island durch die Amerikaner reich geworden war, die
Torfhäuser und Mooshütten dem Wohlstand und den
Backsteinhäusern wichen und alle Isländer auf trockenen
Papieren schreiben konnten. Doch ihre Geduld und Sprachtreue hatte
sich - dank des Schreiben-Glischs - ausgezahlt: Noch heute können
Isländer die Sagas von 1000 n.Chr. im Original lesen und
verstehen.
Gruß, Ulf